Stadt, Land, Fluss mit Roland Girtler
Man kann sich gegen so jemanden einfach nicht wehren: Der Wiener Soziologe und Randgruppenkenner Roland Girtler (*1941) ist ein überwältigender Sympath. Ein vierschrötiger Forscher und fruchtbarer Autor, der sommers den feschen Anzug in den Kasten hängt und die wahre Dienstkleidung anlegt: Mal pilgert er dann monatelang durch Europa oder bezwingt tapfer strampelnd die höchsten Gipfel der Alpen. Mal kehrt er ein bei Schmugglern, Pfarrersköchinnen und Wildererwitwen, mal unternimmt er Tauchfahrten durch die Wiener Unterwelt und lernt ihre bizarren Bewohner als Menschen kennen. Nur gut, dass er das Rotwelsch genauso beherrscht wie die Sitten der feinen Leute, mit der bäuerliche Kultur vertraut ist und mit den urbanen Codes. In den Gasthäusern und Spelunken, im Wiener Ritz wie in der Hamburger Ritze kann er diskutieren, fragen, lachen und mit den Menschen anstoßen – aber nur ein Bier! Nie hat man ihn mehr trinken sehen! Im herbstlichen Wien dann, der drahtige Körper ist wieder in den feineren Zwirn gehüllt, verfasst Girtler seine unvergleichlichen Bücher und kündet seinen Studenten von der Schönheit echter Feldforschung: in einem erdigen Deutsch, ohne tönerne Soziologenphrasen. So ist der Schriftsteller und Akademiker Roland Girtler schon bei Lebzeiten zur Legende, zur personifizierten Volksliteratur geworden. Wien ohne Girtler wäre – man möchte fast sagen: wie ein Österreich ohne seine Originale.
Das sind lauter Langweiler, diese Soziologen, ich wundere mich, dass die kein schlechtes Gewissen haben, die schreiben irgendetwas zusammen in einer komplizierten, geheimbündlerischen Sprache und werden bezahlt dafür, die arbeiten gar nicht richtig, diese Verandasoziologen. Ich mag die Wissenschaft, wenn sie einfach und klar ist, nicht, wenn sie alles zerlegt.
Roland Girtler, Interview mit der WOZ (2008)