Robert Musil – Monsieur le vivisecteur
Robert Musil (1880–1942), neben Kafka und Mann einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, nannte sich einen „Vivisecteur“ – einen, der dem lebenden Objekt mit dem Skalpell zu Leibe rückt, um dessen inneres Gefüge freizulegen. Um das Jahr 1929 herum finden wir den Schriftsteller, seit seinem Debüt Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1905) eine berühmte Persönlichkeit, isoliert und verarmt in seinem Arbeitszimmer in der Wiener Rasumofskygasse 20 auf- und abgehen. Über dem Schreibtisch liegen Decken. Darunter, dem Blick des völlig blockierten Musil sorgsam entzogen, ruhen tausende Manuskriptseiten: die Fragmente des Mannes ohne Eigenschaften. Ein Blick unter die Schädeldecken einer ganzen Gesellschaft und eine moderne Enzyklopädie der Geistesströmungen. Ulrich, Musils autobiographisch gefärbter Protagonist, nimmt „ein Jahr Urlaub von seinem Leben“ und seziert das Denken Kakaniens nach Nietzsche, Mach, Freud und Spengler. 1930 erscheint auf Drängen seines Verlegers Rowohlt der erste der drei geplanten Bände, eine Fortsetzung folgt 1933. Doch bis zuletzt bleibt das mit Querverweisen und Anmerkungen übersäte Blattkonvolut ein Fragment. Noch am Tag seines Todes im Zürcher Exil arbeitet Musil an seinem unabschließbar umfassenden Panorama, das als eine der wichtigsten literarischen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts gilt.
Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden was wert ist und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930)