Karl Kraus – Der Wiener Weltenrichter
Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich im April 1899 unzählige kleine rote Heftchen in Wien – die erste von insgesamt 922 Ausgaben der Fackel, mit der Karl Kraus die Geister seiner Zeitgenossen entzündete. Die Reaktionen auf den Erstling waren zumindest werbewirksam: „Anonyme Schmähbriefe 236 / Anonyme Drohbriefe 83 / Überfälle 1“. Der Weg war vorgezeichnet für die schärfste, brillanteste und schlichtweg unverschämteste Kulturkritik, die Österreich je erlebte. Die Geschichte der Fackel ist auch die ihres Herausgebers Karl Kraus (1874–1936). Seit 1912 verfasste er alle Beiträge selbst und machte das Blatt mit respektablem Selbstbewusstsein zum „Weltgericht“. Die Liste der von ihm Angeklagten war lang und erlesen, viele seiner „Erledigungen“ legendäre Schlammschlachten. Sprache war für Kraus jedoch nicht nur ein Richtschwert, mit dem er mit chirurgischer Präzision tiefe Wunden schlug, sondern auch das höchste Kulturgut überhaupt. Sein Hauptgegner war die „Journaille“, aus deren Phrasen und Beliebigkeit er die Symptome allen Übels in der Welt ablas: „Wer unrein schreibt, denkt auch unrein.“ Im Februar 1936 wurde Kraus im Dunkeln umgestoßen und verletzte sich am Kopf. Vier Monate später erlosch die Fackel des Weltenrichters und obersten Gralshüters der deutschen Sprache.
Die Seiten dieser Zeitschrift, die meine Feder beschrieb, zeigen alle menschlichen Untugenden außer dem Ehrgeiz, Politik zu machen.
Karl Kraus, Die Fackel (1899)
Eine der spektakulärsten „Erledigungen“ und Kampagnen Karl Kraus’ richtete sich gegen den Wiener Polizeipräsidenten und vormaligen österreichischen Kanzler Johann Schober. Dieser hatte während der Junirevolte 1927 den Schussbefehl erteilt. Plakat von 1927.
Das Titelblatt der ersten Ausgabe der Fackel vom 1. April 1899.