Marianne Fritz – Unerhörtes Dichten
Zugegeben – wer, ausgenommen Peter Handke, sieht denn heutzutage noch aus wie ein richtiger Dichter? Marianne Fritz (1948–2007) aber war geradezu verdächtig unauffällig. Wäre sie einem in der Gasse entgegengekommen, man hätte sie wohl kaum bemerkt. Leise vorbeigehuscht wäre sie, etwas weich, etwas blass, die Augen versteckt hinter den großen Gläsern ihrer Brille. Ohnehin mied sie die Öffentlichkeit, wo sie nur konnte, ließ sich selten fotografieren, gab nur wenige Interviews. Stattdessen vergrub sie sich in ihrer Wiener Wohnung zwischen Büchern und Papieren und schrieb. Verdächtig still und unaufhörlich.
Und wirklich: So unscheinbar, ja fast unsichtbar Marianne Fritz als Person war, so unerhört war das, was sie in Schüben aus der Stille zwischen hohen Aktenstößen in die Außenwelt sandte: Eine eigene, neue Sprache, eine eigene Grammatik, über 10.000 Seiten mit rund 1.000 verschiedenen Figuren – als ein schroffer Felsbrocken ragt das Hauptwerk Marianne Fritz’, der unvollendete Romanzyklus Die Festung (1985–1998), in der österreichischen Literaturlandschaft empor. Ein nach wie vor fast unbezwungenes Ungetüm der experimentellen Literatur, das die Geschichte der Arbeiterfamilie Null erzählt und in ein regalmeterlanges Sprach- und Sinnspiel verwandelt. Ob den Leser beim Durchwandern desselben nun ein Höhenrausch oder aber eher ein Schwindelgefühl befällt: Marianne Fritz’ unerhörtes Werk verdient in jedem Fall Gehör.
Es ist ein singuläres Werk, vor dem man nur stehen kann wie ein gläubiger Muslim vor der Kaaba. Wahrscheinlich bin ich im Ganzen zu klein für Marianne Fritz, sie geht nicht in mich hinein.
Elfriede Jelinek über Marianne Fritz (2003)