Sigmund Freud – Wiener Innenwelten
Eine „Versuchsstation des Weltuntergangs“ nannte Karl Kraus Wien. Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade hier die Arbeiten des aus Mähren stammenden Psychologen Sigmund Freud (1856–1939) entstanden: Seine Ordination in der Berggasse 19, Wien IX, war nichts Geringeres als die Versuchsstation eines radikal neuen Menschenbildes. Zur Zeitenwende 1900 veröffentlichte Freud die Traumdeutung. Der Inhalt: Das „Ich“ des Menschen ist nicht Herr im eigenen Hause, sondern das „Es“, der Trieb, regiert im Verborgenen. Von der Wissenschaft kritisch aufgenommen, geriet die Schrift in der Luft der Kaffeehäuser, in den Händen einer hungrigen Garde junger Schriftsteller, zum Treibsatz, der die Wiener Literatur mit einem Schlag aus dem 19. Jahrhundert herauskatapultieren sollte. Sie wurde zur Fieberkurve des modernen Menschen. Kaum ein Literat, der sich nicht mit der neuen Psychoanalyse auseinandersetzte, allen voran Arthur Schnitzler, der den unkontrolliert rasenden Gedankenstrom seines Leutnant Gustl (1900) unmittelbar unter dem Eindruck der Traumdeutung verfasste. Die Übergänge zwischen Literatur und Wissenschaft verschwammen nicht nur beim Arzt Schnitzler: Werke wie Robert Müllers Tropen (1915), die Reise des Ingenieurs Brandlberger durch eine zum Malariadschungel gewandelte Seelenlandschaft, bezeugen die ungemeine Fruchtbarkeit von Freuds Arbeit auf die Künste. 1930 wurde Freud mit dem Goethepreis auch selbst literarische Ehrung zuteil.