Heimito von Doderer – Wider den Ungeist
Wo der Alsergrund plötzlich und scharf zur Währinger Straße aufsteigt, dort liegt die Strudlhofstiege. Ein Mauerblümchen in der Wiener Stadtlandschaft, das in seiner ebenso großzügigen wie etwas unpraktischen Architektur wohl nur Anrainern bekannt wäre – wenn da nicht Heimito von Doderers (1896–1966) Epochalroman Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre (1951) wäre. Ausgerechnet in einer Zeit kultureller Fassungslosigkeit, als im Schutt des erneuten Krieges Wolfgang Borchert noch die „Zertrümmerung der Grammatik“ forderte und die Wiener Autorin Ilse Aichinger jedes „Reden unter dem Galgen“ einstellen wollte, schuf von Doderer mit seinem „totalen Roman“ ein opulentes Meisterwerk österreichischer Erzählkunst: Ein scheinbar aus der Zeit gefallenes Sittengemälde der Umbruchsjahre 1911 bis 1925, das der studierte Historiker mit barocker Lust am Formen und Formulieren aus einer Vielzahl von Handlungssträngen und Betrachtungen zusammenwob. Lose verfolgt der Roman „die Menschwerdung des Leutnant Melzer“ vom Militär zum Bürger. Doch mit Liebe zum wienerisch-saloppen Nebenbei ebenso wie zur wohldosierten Giftspritze entrollt Doderer ein weites Panorama des Geistes und Ungeistes Österreichs, an dessen Nahtstellen wieder und wieder die Strudlhofstiege aufscheint. Mit feinem Gespür für die Ironie dabei wählte Doderer gerade sie, die etwas unpraktische, etwas altmodische, zum Sinnbild in einem der größten Romane des 20. Jahrhunderts.
Wenn die Blätter auf den Stufen liegen
herbstlich atmet aus den alten Stiegen
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte,
die bemooste Vase in der Mitte
überdauert Jahre zwischen Kriegen.
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
Heimito von Doderer, Auf die Strudlhofstiege zu Wien (1951)