Walther von der Vogelweide – Alte Meister in Wien
Nurmehr in Umrissen kann der heutige Betrachter die Figur Walthers von der Vogelweide (etwa 1150–1230) erkennen. Geboren wurde der deutsche Meistersänger wohl im Niederösterreichischen, die einzige bekannte urkundliche Erwähnung weist ihn 1203 bei Klosterneuburg nahe Wien nach. Über die zahlreichen Stationen seines bewegten, bis ins Alter auf wechselnde Mäzene bei Hofe angewiesenen Lebens hat sich das Dunkel vergangener Jahrhunderte gesenkt. In unvermindertem Glanz jedoch strahlt seine Dichtung bis in die Gegenwart: 75 Lieder und 140 Sangspruchstrophen haben die Zeiten überdauert. Sie zählen zu den bedeutendsten literarischen Schöpfungen des Mittelalters. Einen besonderen Platz im Leben und Werk Walthers nimmt Wien ein. Von 1190 bis 1198 weilte er am „wünneclîchen“ Hof der Babenberger „ze Wiene“, wo ihn Reinmar von Hagenau die hohe Kunst des Minnesangs lehrte. Und auch später noch, längst über den Lehrer von einst hinausgewachsen, bekannte er: „Ze Ôsterrîche lernt ich singen unde sagen“.
Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine:
da ûf satzt ich den ellenbogen:
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben …
Ich saß auf einem Steine:
Da deckt’ ich Bein mit Beine,
Darauf der Ellenbogen stand;
Es schmiegte sich in meine Hand
Das Kinn und eine Wange.
Da dacht’ ich sorglich lange
Dem Weltlauf nach und ird’schem Heil …
Walther von der Vogelweide, Der Wahlstreit (1198)