Die Hauptstadt und das Märchenreich
Längst nicht alles an Wien ist märchenhaft. Aber schon immer war der Wiener, wenn er grad’ so ins Erzählen kommt, und schon gar wenn es um ihn selbst geht, viel zu charmant und gewandt, um das rohe Faktum nicht mit einem Schuss Schmäh zu verfeinern. Der phantasievolle Umgang mit dem Gegebenen liegt ihm jedenfalls im viel besungenen Blut. Und vielleicht ist das am Ende der Grund, warum der Wiener über sich und seine Stadt so viele verschiedene Sagen, Legenden und Märchen erzählen kann, in denen sich seine Geschichte, seine Eigenheiten, ebenso wie seine Lebensweisheit auf wunderschöne Weise bewahrt finden.
Die aus Hanau stammenden Gebrüder Grimm waren nicht die ersten, die sich um die Erhaltung von Volksmärchen in all ihrer Schönheit und Vielfalt verdient gemacht haben. Ihre Kinder- und Hausmärchen aber, die sie von 1815 bis 1850 in verschiedenen Ausgaben veröffentlichten, sind bis heute die wichtigste Sammlung von Märchen deutscher Zunge geblieben. Und auch die Wiener haben ihren Teil dazu beigetragen. Denn als Jacob Grimm (1785–1863) im Juli 1814 mit der kurhessischen Delegation zum Wiener Kongress anreiste, da dauerte es nicht lange, bis er ein „Circular wegen Aufsammlung der Volksmärchen“ umhersandte und die reiche Ernte der Wiener Märchen in diese Sammlung einfließen ließ. Nein, längst nicht alles in Wien ist märchenhaft. Aber doch so manches bekannte deutsche Märchen ein Wiener!
… wenn wir den Reichthum deutscher Dichtung in frühen Zeiten betrachten, [dann sehen wir], daß von so vielem nichts lebendig sich erhalten, selbst die Erinnerung daran verloren war, und nur Volkslieder, und diese unschuldigen Hausmärchen übrig geblieben sind.
Gebrüder Grimm, aus der Vorrede zum ersten Band der Kinder- und Hausmärchen (1810)