Das Haus „Zur Minute“ in der Prager Altstadt
Zwischen Juli 1889 und September 1896 lebte die Familie Kafka in diesem Renaissancehaus am Kleinen Ring. Zuvor waren in dem Gebäude über viele Jahrzehnte hinweg Salben gemischt und Tränklein bereitet worden – eine Apotheke „Zum weißen Löwen“ hatte hier ihren Sitz, ehe sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts zugesperrt wurde. An die alten Magistri erinnert bis heute der Löwe an der Hausecke. Dann, zu Kafkas Zeiten, zog eine Trafik ins Erdgeschoß des Gebäudes. Hier also fanden die ruhelos von einer Wohnung zur nächsten ziehenden Kafkas für einige Jahre eine Zwischenstation. In rascher Folge erblickten hier Kafkas drei Schwestern das Licht der Welt; und jeden Morgen trat ein Knirps vor die Tür: der kleine Franz machte sich auf seinen Weg zur nahe gelegenen Deutschen Knabenvolksschule.
Das Negative zu tun ist uns noch auferlegt; das Positive ist uns schon gegeben.
Franz Kafka, Aphorismen
Ich hatte einmal als ganz kleiner Junge ein Sechserl bekommen und hatte große Lust es einer alten Bettlerin zu geben, die zwischen dem großen und dem kleinen Ring saß. Nun schien mir aber die Summe ungeheuer, eine Summe die wahrscheinlich noch niemals einem Bettler gegeben worden ist, ich schämte mich deshalb vor der Bettlerin etwas so Ungeheuerliches zu tun. Geben aber mußte ich es ihr doch, ich wechselte deshalb das Sechserl, gab der Bettlerin einen Kreuzer, umlief den ganzen Komplex des Rathauses und des Laubenganges am Kleinen Ring, kam als ein ganz neuer Wohltäter links heraus, gab der Bettlerin wieder einen Kreuzer, fing wieder zu laufen an und machte das glücklich zehnmal (oder auch etwas weniger, denn, ich glaube die Bettlerin verlor dann später die Geduld und verschwand mir). Jedenfalls war ich zum Schluß, auch moralisch, so erschöpft, daß ich gleich nach Hause lief und so lange weinte, bis mir die Mutter das Sechserl wieder ersetzte.
Franz Kafka an Milena Jesenská