Georg Gimpl
1949–2014
Dr. Georg Gimpl war Universitätsdozent für Ideen- und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Oulu sowie Lektor an der Universität Helsinki. Als Germanist und Philosoph hat er eine Reihe von Publikationen veröffentlicht, denen allesamt ein ganz eigentümlicher, überaus charakteristischer Tonfall zu eigen ist. Allerdings, der Name offenbart es, ist Gimpl nicht nordischen Geblüts. Er stammt aus dem kleinen salzburgischen Flecken Rußbach an der Grenze zum Salzkammergut. Im Schatten hoher Berge, an der Vorderseite des Dachsteins, wie man dort ziemlich vermessen behauptet, hat er seine Kindheit und frühe Jugend verbracht, wohlbewahrt und -erzogen in einem Elternhaus, von dem er milde und voll Wärme spricht.
Seine Universitätsstudien hat Gimpl noch im heimischen Salzburg, genauer an der dortigen Paris-Lodron-Universität, absolviert. In den Aufbruchjahren von 1968 bis 1975 verschrieb er sich der Germanistik und Philosophie, studierte auch noch die Psychologie, dann aber trug es ihn auch schon hinaus in die Welt, im hohen Norden fand er den Schauplatz seiner akademischen Karriere. In der Stille eines nordischen Tusculums lehrend, forschend und publizierend hat Georg Gimpl sich in logischer Folge vorzüglich der österreichischen Philosophiegeschichte verschrieben. Sein wichtigstes Interessensgebiet – Friedrich Jodl, zudem er auch mehrere Werke herausgabe (Vernetzungen: Friedrich Jodl und sein Kampf um die Aufklärung, 1990; Unter uns gesagt. Friedrich Jodls Briefe an Wilhelm Bolin, 1991; Ego und Alter Ego. Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl im Kampf um die Aufklärung, 1996).
Und warum fand Gimpl eines seiner wichtigsten Themen in Prag? Da die Stadt, die ja bis vor gar nicht so langer Zeit einiges mit Österreich zu tun hatte, in der Philosophiegeschichte eine ähnliche Rolle spielte, wie in der Literatur, mußte das von Norden in Richtung Heimat blickende Forscherauge unweigerlich die Stadt an der Moldau streifen.
Der tschechischen Kapitale ist es in jüngster Zeit gelungen, aus ihrer Randlage zurückzukehren ins Herz Mitteleuropas – der Kontinent leidet ja bekanntlich an einer kardialen Hypertrophie, zumindest wenn man die geographische Lage all jener Städte und Gebiete perkutiert, die sich als im Herzen gelegen definieren. Diese Rückkehr ins pulsierende Zentrum des „westlichen“ Europas war verbunden mit einem enormen Wirtschaftsaufschwung, dem Hereinbrechen gewaltiger Touristenströme, dem Herausputzen der Stadt nach Art moderner Metropolen. Oder westlicher Metropolen, wie man zwischen Sankt Petersburg und Lissabon zu sagen pflegt. Das alte Prag erlebte im Zeitraffer jenen Modernisierungsschub, der ihm über die Jahrzehnte hinweg erspart geblieben war. Drei-Tage-Touristen applaudierten der platzgreifenden Fassadenkosmetik, chrom-, stahl- und glasblinkende Einkaufszentren, Hotelbauten und Versicherungspaläste vermittelten Bewohnern und Besuchern den beglückenden Eindruck, sich nunmehr am Puls der Zeit zu befinden. Der materiellen Entkernung folgte die geistige auf den Fuß. Vieles wurde freimütig hingeopfert: Beginnend mit den letzten deutschen Aufschriften vergangener Tage, schließend mit wertvollen Bibliotheksbeständen, die an Antiquare verschleudert oder in stickige Museumskeller verfrachtet wurden, um dort abzusinken in den alles unter sich begrabenden Staub des Vergessens.
Gimpls Verdienst ist es nun, aus diesen Schichten etwas zu Tage gefördert zu haben, das sonst schon in wenigen Jahren verblaßt wäre, verdämmert, vielleicht für immer verloren. Mit großer Sachkenntnis, sowie der Besessenheit eines wahren Forschers blies er den Staub von den Akten einer Familie, die einstmals im Kulturleben der Stadt Prag eine wichtige Rolle gespielt hatte. Dank des Siegeszuges der Literaturikone Franz Kafka war immerhin ein Name am Leben geblieben, mit dem freilich kaum noch jemand eine konkrete Lebenswelt verband: Berta Fanta. Sie habe einen Salon geführt, so raunte man sich von einer Kafkapublikation zur nächsten zu.
Aber in Berta Fantas Salon stand mitnichten der von der Nachwelt anvisierte Kafka im Mittelpunkt. Das auf diesen Autor fokussierte Auge mußte den Salon naturgemäß unscharf wahrnehmen. Darüber hinaus haftete der von vermögenden und bemühten Hausbesitzersgattinen getragenen Salon-Kultur schon zu Berta Fantas Zeiten etwas Altväterisches an.
Ihr Salon ging denn, wie die ganze blaustrümpfige Institution überhaupt, den Weg alles Irdischen. Als Facette bürgerlicher Existenz hatte er seine Daseinsberechtigung spätestens dann verwirkt, als das Bürgertum selbst den mächtigen Hieben eines antibürgerlichen Zeitgeistes zu weichen hatte. Und heute scheint nichts ferner als jene in unseren Augen so betuliche Welt, in der man Freundschaftsbelege in Stammbüchern sammelte und seine geistigen Ergüsse Tagebüchern, und damit der Nachwelt, anvertraute.
Doch gerade da belehrt uns der Forscher Gimpl eines Besseren. Er dreht da die Uhr zurück, wo der Zeitgeist vorwärts prescht, und – wird fündig. Er richtet den Strahl seiner wissenschaftlichen Wunderlampe auf das komplizierte und von äußerster Feinheit gewobene Geflecht familiärer Beziehungen, aus denen sich bei näherem Hinsehen jener Rahmen abhebt, in denen sich Persönlichkeiten wie Franz Kafka oder Albert Einstein überhaupt erst fassen lassen.
Freilich läßt sich der Goldstaub wissenschaftlicher Erkenntnis nicht in der stillen Gelehrtenstube schürfen. Und so bezog Gimpl Aufenthalt in Prag, studierte den Prager Boden in vivo, wühlte sich durch die Archive, erkundete selbst die unscheinbarste Bildpostkarte nach Hinweisen auf jene Familie, die vor noch nicht einmal einem Jahrhundert als wohleingesessene Apothekersfamilie am Altstädter Ring zu Prag residierte, in unmittelbarer Nähe zu Kafkas diversen Wohnstätten und mit Ausblick auf das florierende Kurzwarengeschäft des erfolgreichen Geschäftsmannes Hermann Kafka.
Fasziniert vernahmen Gimpls Zuhörer, was der zugereiste Autor über das geliebte Prag zu erzählen wußte, mit immer wieder neuer Spannung erwarteten sie die sommerlichen Abende im Biergarten auf der Kleinseite, um zu inspizieren, was der kühne Anatom denn wieder aus dem Situs der Historienmumie präpariert hatte.
Bald schon zeigte sich, daß die Fantas, ausgestreut über die Kontinente, in der ganzen Welt ihre Spuren hinterlassen hatten. Gimpl, nicht faul, reiste von hier nach dort, von seinen finnischen Gestaden nach den USA, von seinem Prager Domizil nach Israel, von Wien und Berlin bis in die kleinsten Dörfer Germaniens, wo er Hinweise auf die Fantas erwarten durfte. Und Gimpls Weltfahrt war Glück beschieden. Den Tornister mit reichlich Beute gefüllt, kehrte er zurück ins mittlerweile zur dritten Heimat gewordene Prag, rastlos weitersuchend, weiterstöbernd, weiterforschend.
Was alles kam da so spät noch ans Licht des Tages! In seinen geistigen Grabungen stieß Gimpl auf längst vergessene familiäre Beziehungsscherben, auf Geschehnisse, die wohl genügend Stoff für einen erfolgreichen Hollywood-Streifen hätten abgeben können. Aber – da verweigerte Gimpl. Aus Pietät und Achtung vor dem zu erforschenden Sujet enthüllte er das zu Tage getretene Skandalträchtige, das Spekulative – nicht. Und gerade durch diese Selbstbeschränkung gelang es ihm, Person und Familie der Berta Fanta glaubhaft und seriös zu portraitieren, und mit ihr und in ihr ein scharfes und treffliches Bild einer längst entschwundenen Epoche erstehen zu lassen.
Irgendwann muß Gimpl gemerkt haben, daß er sich der auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag-Strašnice ruhenden Toten nicht nur als Forscher nähern durfte, sondern ihr in letzter Konsequenz auch als Mensch begegnen müsse. Es ist der Pragerin Berta Fantas posthumes Glück, daß sich gerade dieser Autor ihres Nachlebens angenommen hat.
Und es ist unser Glück, wenn uns der alpenländische Tiefseetaucher die Schätze betrachten läßt, die er aus den Urgründen der Kafkazeit gehoben hat, aus einer Tiefe, in die vorzudringen uns Normalsterblichen sonst verwehrt ist.
Eine Parte erreichte uns 2014: Der Salzburger Forscher Georg Gimpl ist in verhältnismäßig jungen Jahren einem Schlaganfall erlegen. Er ist in seinem Heimatort Rußbach zur letzten Ruhe gebettet.